Mystik und Dharma
Die Besonderheit in der Lehre des Buddha ist die Erkenntnis der Vier Edlen Wahrheiten vom Leiden, von der Ursache des Leidens, der Aufhebung des Leidens und vom Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt. Unter Leiden, dukkha, versteht der Buddha alles, was für uns unbefriedigend, unzulänglich, leidhaft ist. Und damit ist jeder Moment des samsarischen Daseins dukkha und von letztendlicher Glückseligkeit des absoluten friedvollen Zustands der Befreiung weit entfernt.
Meditation in Samatha (Gemütsruhe) und Kontemplation bereiten uns auf den tief spirituellen Teil des Buddhadharma vor, der uns über die Vertiefungen, die Jhanas (Pali; Dhyanas in Sanskrit) zu mystischen Erfahrungen führt. Dass auch diese vergänglich sind, führt zu tiefem Verstehen und Loslassen. Tiefes Verstehen durch innere Verwirklichung kann uns dann zur Befreiung führen. Auf diese Weise gehen wir genau den Weg, durch den der Buddha selbst Befreiung erlangt hat, und wie er in den frühen Schriften des Palikanons überliefert ist.
Dazu möchte ich noch einmal auf das Wort "vimutto" hinweisen, das der Buddha benutzt hat, um die letztendliche Befreiung zu beschreiben. Es bedeutet "losgelöst". Und die ursprüngliche Bedeutung unseres Wortes "absolut" ist genau dieselbe. Ein Befreiter ist losgelöst von allem, auch von Philosophien, Meinungen, Vorstellung von irgendetwas - einschließlich der Vorstellung von einem "Selbst", die so schwer zu überwinden ist. Das bedeutet nicht, dass da kein Selbst ist. Der Buddha hat es nie verneint. Er hat beide Extreme vermieden, den Nihilismus, den Vernichtungsglauben ebenso wie den Eternalismus, den Ewigkeitsglauben. Aber es bedeutet, dass nichts, was auch immer wir uns darunter vorstellen, ein solches Selbst sein kann. Das ist die "Neti-Neti"- Methode der indischen Mystiker: "Das ist es nicht und das ist es nicht..." Sie hat den Buddha dazu veranlasst, den Weg zur Erkenntnis des Nicht-Selbst, des Anatta (Pali; Anatman in Sanskrit) zu lehren. Sie führt uns dahin, dass wir alles lassen können, was "Es" nicht sein kann, da es dem Entstehen und Vergehen unterliegt und damit unbeständig und vergänglich ist - um dort anzukommen, wo es nur noch ein "Ist" gibt, "das was weiß", jenseits von Raum und Zeit der relativen Wirklichkeit.
Damit ist die buddhistische Herangehensweise einzigartig. Alles, was wir in irgendeiner Weise erfahren und benennen können, kann nicht die letztendliche Wahrheit sein. Selbst Feststellungen wie "Natur des Geistes", "leuchtendes Gewahrsein", "genzenloses Bewusstsein" beschreiben Zustände unseres Geistes und wenn sie noch so subtil sind. Befreiung liegt jenseits davon. Das, was wir im tiefsten Grunde wirklich sind, geht über all das hinaus.
Dazu muss hier noch einmal angemerkt werden, dass es auch innerhalb der späteren buddhistischen Traditionen unterschiedliche Sichtweisen von der letztendlichen Wirklichkeit gibt, die sich von der Verwirklichung des Buddha unterscheiden, wie wir gesehen haben. (Siehe dazu unter "Inspirieren" --> "Tiefes Verstehen" und "Transzendieren")
Was hat das nun mit Mystik zu tun? Nun, Mystik setzt da an, wo der Verstand, unser analytisches, intellektuelles Denken aufhört und wir seine Grenzen überschreiten - wenn tiefe Einsicht durch Schauen einsetzt. Wahrheit kann nur geschaut werden, wie die Weisen sagen. Der menschliche Verstand kann sie nicht erfassen. Er ist ein Teil unseres Menschseins, um mit dieser dualistischen Welt in Kontakt zu treten, dort zu funktionieren. Wahrheit liegt jenseits des Menschseins. Wir sind nicht von der Welt, wir sind in der Welt. Wir sind nicht wesenhaft Mensch, sondern wir haben diesen Körper und diesen Geist als Menschen. Unser wahres Sein liegt jenseits davon. Das ist buddhistische Mystik. Die Erkenntnis, Erfahrung und Verwirklichung davon ist Befreiung. Es ist ein tief spiritueller Weg, die Essenz des Buddhadharma, der überweltliche Weg, wie ihn der Buddha genannt hat.
Non-Dualität
Ani Karma Tsultrim