Tiefes Verstehen

Vor allem die ursprünglichen Lehrreden des Buddha, wie sie im Palikanon überliefert sind, zeigen in aller Klarheit den WEG. Die Methoden des Vajrayana sind hervorragende Mittel der Transformation. Und die Mahamudra-Anweisungen eröffnen einen wunderbaren Trainingsweg auf fortgeschrittener Stufe in Samatha und Vipassana mit dem Geist als einzigem Meditationsobjekt.
Die Schriften des Meisters Wu Hsin aus der vorbuddhistischen Zeit des alten China (3. Jh.v. Chr.), die den Lehren des Buddha in der Essenz, vor allem auch den Mahamudra- und Dzogchen-Lehren, in vielem gleichgestellt werden können, sind für mich ein direkter Fingerzeig zum Letztendlichen und so ein treuer Begleiter auf meinem Weg geworden. Auch wenn die tatsächliche Existenz dieses Meisters umstritten ist, sind die auf Englisch herausgegebenen Zusammenstellungen von Texten und Kernunterweisungen in ihrer Tiefgründigkeit und Direktheit von unschätzbarem Wert.

 

Die Texte von Mahamudra-Meistern und Chan-Meistern eröffnen die ganze Tiefe der Erkenntnis der Natur des Geistes. Manches deutet aber auch darüber hinaus, wie z.B. die berühmten Verse von Shen-hsiu und Hui-neng aufzeigen, die im Plattform-Sutra von Hui-neng überliefert sind:

"Der Leib, das ist der Bodhi-Baum,

der Geist, er gleicht dem klaren Ständer-Spiegel.

Wisch ihn denn immer wieder rein,

lass keinen Staub sich darauf sammeln!"

(Shen-hsiu)

"Im Grunde gibt es keinen Bodhi-Baum,

noch gibt es Spiegel und Gestell.

Da ist ursprünglich kein einziges Ding -

wo heftete sich Staub denn hin?"

(Antwort von Hui-eng auf den ersten Vers)

 

Der letzte Vers entspricht der Merkmallosigkeit des Nibbana/Nirvana, ein Begriff, den der Buddha in seinen Lehrreden benutzt hat. Auch hat er davon als der höchsten Leerheit gesprochen, ausführlich dargelegt in "Kernholz des Bodhibaums" von Ajahn Buddhadasa. In den frühen Texten ist nie von der "Natur des Geistes" die Rede, sondern immer von Todlosigkeit, höchstem Frieden, Merkmallosigkeit, Nicht-Selbst. Das deutet auf die Transzendierung der sogenannten Natur des Geistes hin und damit auf die Transzendierung auch von dem, was oft als höchstes Ziel bezeichnet wird: Leuchtendes Gewahrsein, Klarheit, Luminosität, Klares Licht - Eigenschaften des Geistes, die im gestillten, geeinten Geist erfahren werden können. 

Aber, wie Zen-Meister Dogen gesagt hat: "Lass Körper und Geist fallen". Und wie es im Chan heißt: "Das reine Gewahrsein ist der Ausgangspunkt für die Praxis zur Befreiung" (aus einer Retreat-Unterweisung von Meister Chi Chern).

 

Dieser Weg des frühen Buddhismus und der Mahamudra, sowie des Chan ist reine Praxis, Erfahrung durch Übung, gegründet auf den Lehren des Buddha. Er liegt neben oder jenseits der späteren philosophischen Schulen, die sich im Laufe der Jahrhunderte im Buddhismus in Indien entwickelt haben und heute vor allem im tibetischen Buddhismus - neben tiefgründigen Praxismethoden - überliefert sind. Geistiges Training durch philosophische Studien kann begleitend dazu beitragen, zu neuer Sicht und Erkenntnis zu gelangen. Aber, wie Chan-Meister Chi Chern lehrt, können sie ganz subtile Konzepte in unserem Geistgrund erzeugen, die uns auf dem Weg zum Hindernis werden, da der Geist uns damit unmerklich Erfahrungen vorgaukelt, die keine echten Erfahrungen sind. Und damit ist der Zugang zur letztendlichen Verwirklichung der Befreiung blockiert. So nützlich ein gewisses Studium der Schriften ist - als Wegweiser auf dem Weg - so müssen wir unsere innere Entwicklung als fließenden Prozess betrachten, uns davor hüten, sie als Wahrheit und Wirklichkeit zu akzeptieren und letztendlich alle Konzepte, Meinungen, Philosophien fallen lassen, um das Tor zur echten Erfahrung aufzustoßen. 

 

"Wende dich deinem eigenen Geist zu und erkenne. Hafte nicht an äußeren Lehrgebilden (Dogmen). 

Im Dharma gibt es keine Vier Fahrzeuge, aber im Geist der Menschen gibt es vier Verfassungen. 

Sehen, Hören und das Lesen der Sutras ist das Kleine Fahrzeug. 

Zur Lehre erwachen und die Bedeutung verstehen ist das Mittlere Fahrzeug. 

Die Lehre verwirklichen ist das Große Fahrzeug. 

Alle Lehren insgesamt durchdringen, mit allen Übungen versehen sein und dennoch von nichts befleckt werden, von den Formen aller Dogmen losgelöst und ohne irgend etwas Erlangtes sein, dies wird das Höchste Fahrzeug genannt. 

Fahrzeuge, das bedeutet praktische Anwendung, nicht Wortgefechte und Diskussionen. 

Auf jeden Fall musst du dich selbst üben, deshalb frag nicht mich. 

Das eigene Wesen, das zu allen Zeiten (und überall) seinem Ursprung entspricht, das ist die Bedeutung der Vier Fahrzeuge."

Aus: Das Sutra des Sechsten Patriarchen - Das Leben und die Zen-Lehre des chinesischen Meisters Hui Neng (638-713)

 

 

relativ und absolut

 

Ani Karma Tsultrim